In wenigen Worten
Leicht verkopfte, multimediale und von Herzen ernstgemeinte Reportage über die Erlebnisse und Erkenntnisse beim Almabtrieb im Tiroler Kelchsau in den Almwelten der Kitzbühler Alpen und dem Versuch, das Erlebte zu vermitteln.
Hintergrundrauschen – Kalbinnen mit Glocken im Stall auf der Alm in der letzten Nacht vor dem Abtrieb
Rund vier bis sechs Wochen nach dem Bartholomäustag, dem 24. August jeden Jahres, geht es für die Almbauern und ihr Vieh endgültig bergab, also höhenmetertechnisch. Wann genau, das ist von Region zu Region, von Alm zu Alm unterschiedlich. Je höher die Alm gelegen ist, desto früher wird aufgebrochen. Die Weiden oder das, was von ihnen noch übrig ist, sind abgefressen, das, was noch steht, enthält nur mehr wenig verwertbare Energie. Und es kann jederzeit schneien, viel schneien, sehr viel. Von solch unerwarteten Wetterereignissen samt verschärften Bedingungen für Mensch und Tier kann wohl jeder Almbesitzer das eine oder andere Liedchen singen.
Es gibt sicher viel zu Schreiben über die Almen, die Menschen und die Tiere, die dort jedes Jahr für eine Weile leben. Die vielen Facetten der Tradition, von Brauchtum und Glauben, von alten Bauernweisheiten und Tagen, wie dem von Bartholomäus.
Alm. Drei einfache Buchstaben formen ein Wort, das zu vielen unterschiedlichen Bildern in uns führt. Zu Erinnerungen, Wünschen und Vorsätzen, zu Idylle, Wanderungen, Bergen und Wiesen samt all den Assoziationen, die ein jeder dazu hat.
Aber kurz zum Kontext:
Ich hatte das Glück, von einer unserer früheren Podcast-Teilnehmerinnen, Patricia Kofler, zum diesjährigen Almabtrieb eingeladen zu werden. Tief in den Kitzbühler Alpen, in Kelchsau. Noch genauer, weit hinein ins Tal und dann weit hinauf bis auf die Foissach-Alm auf 1800m Seehöhe. Die Alm wird von Patricias Vater Walter betrieben, der auf die Alm aus- und aufgestiegen ist und sich mit dem neuen Leben einen eigenen Traum erfüllt hat. Jedes Jahr bringt der gelernte Metzger nun seine Schafe auf die Alm, die er seit 2007 gepachtet hat. Und weil dort oben noch ausreichend Platz ist, werden neben den knapp 80 eigenen Tiroler Bergschafen, noch auch noch rund 40 weitere Schafe, 27 Kalbinnen, 8 Perde und 4 Ponys anderer Bäuerinnen mitbetreut.
Patricia, Walters Tochter, kandidierte gerade für die ÖVP im Tiroler Landtag und ist neben Alm, Ausbildung, einer Führungsposition im dortigen Lagerhaus, auch noch im Wahlkampfmodus. Ein Termin dort und da, eine Hochzeitsfeier und Taxi spielen für einen leicht angeschlagenen 42-jährigen Wiener Nachwuchsjournalisten, geht sich aber immer noch locker aus. Wir hatten sie im Podcast von zwei Jahren schon als „Powerfrau“ bezeichnet. Die Diagnose hat sich mittlerweile durchaus verfestigt. Manches und mancher bleibt einfach rätselhaft.
Rätselhaft. Dieses Wort drängt sich auf, blickt man nun mit ein wenig Distanz und einem immer noch schmerzenden Rücken vom Stall ausmisten auf diese drei Tage in Tirol zurück. Rätselhaft deswegen, weil mir ein Satz, den mir einer der dortigen Bauern am Abend kurz vorm Schlafen gehen, mitgegeben hat, nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Ich erzählte ein wenig darüber, was wir mit BauertothePeople machen und erreichen möchten. Die Leut wieder zamm bringen, Einblicke geben, in Lebenswelten, die man sonst nicht kennenlernen würde. „Ich würde niemals behaupten, zu wissen, wie euer Leben hier abläuft“, erklärte ich durchaus selbstkritisch, „aber diese drei Tage geben mir zumindest ein erstes Gefühl dafür, was es bedeuten könnte. Und um diesen Bezug geht es bei uns“! Werner, so heiß der Bauer, mit dem ich am Vormittag noch die Kühe über die steilen Hänge zusammengetrieben habe und der auch den Beinamen „Beinhart“ trägt, sagt darauf in einer sehr direkten, durchaus harten, gleichzeitig aber interessierten und doch erkennbar liebenswerten Art: „Du hast nach drei Tagen absolut keine Ahnung davon, wie wir hier leben!“ Kurze Stille, dann noch eine spannende Diskussion, die aber nichts zur Sache tut. Danach musste der „Wiener“ ins Bett, die Tagwache für den Almabtrieb war für 05:00 Uhr anberaumt, die Nacht davor mit drei Stunden Schlaf und einem Bauch voller Hopfensmoothies schon entsprechend kurz. Ich musste überleben, musste schlafen!
„Du hast keine Ahnung davon, wie wir hier leben!“ Der Satz lässt mich nicht mehr los. Ich war doch dort. Ich habe gesehen, gefühlt und spüre es noch immer, wie unglaublich hart es sein kann, einen Stall auszumisten, weil du den Mist förmlich aus dem Boden reißen musst, weil die Tiere in derartig fest zusammengetreten haben. Ich habe doch gesehen, wie schnell ein endlich sauberer Stall gleich wieder zugeschissen wird, wenn du kurz mal weg bist.
Drei Wochen zuvor waren wir in Vorarlberg und haben Wacholderstauden ausgerissen, damit dort wieder Futter für die Tiere wachsen kann. 2qm in einer Stunde. Und dann richtet man den Kopf auf und blickt auf hektarweise steile Flächen, wo überall Wacholder und anderes Gesträuch die Almen zuwächst. Impulsgedanke: „Scheiß drauf, ich hau ab“!
Kilometerlange Zäune, die jedes Jahr auf- und dann wieder abgebaut werden, von denen viele die Eigenschaft aufweisen, genau dort zu stehen, wo es kurz vor gefährlich und ziemlich steil ist. Wir reden hier von zweistelligen Kilometerzahlen an Zaunpfählen und dem restlichen Material. Und nicht jeden Tag scheint die Sonne. Bei uns hat es geregnet. Aber zum Glück eher zärtlich.
Beim Anblick von Zäunen habe ich heute in erster Linie Respekt, weil ich die Arbeit kennenlernen durfte. Je steiler das Gelände, desto größer der Respekt, desto rätselhafter erscheint es mir auch oft, mit welcher scheinbaren Gelassenheit viele Menschen diese harte Arbeit hinnehmen. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, der eine oder andere hat sogar seine Freude daran.
Und da ist es wieder, dieses Wort … Rätselhaft. Warum tut man sich das an? So richtig reich macht es einen nicht. Zumindest nicht jene, die ich bis jetzt getroffen und beim Arbeiten begleitet habe. Und nicht nur, dass die Arbeit von diesen Menschen gemacht wird, sie tun es meist noch mit dieser schrecklichen Gelassenheit und Selbstverständlichkeit, die ich zwar sehen, aber nicht nachfühlen kann. Ich würde nach kurzer Zeit verzweifeln und so gerne ich die Berge eigentlich habe, würde ich wohl bald eine „Steilophobie“ oder irgendein höhenmeterbolisches Syndrom entwickeln und mich nach den ebenen Flächen des Ostens oder nach Strand und Meer sehnen. Hauptsache flach. Und das schreibe ich als Salzburger, der in Wien sitzend jeden Tag die Berge vermisst. Aber eben andere Berge, auch wenn es dieselben sind.
Neben der Arbeit gibt es noch die Tradition. Und die ist im Prinzip auch wieder Arbeit. Über Jahrhunderte hinweg überlieferte Bräuche und Handlungen, die mit einer scheinbar gegensätzlichen Mischung aus unhinterfragter Routine und einem tiefen Bewusstsein für die feinstoffliche Bedeutung vermeintlich unnötiger Folklore jährlich aufs neue überliefert werden. Es sind nicht einzelne Facetten des Brauchtums, die hier in den Vordergrund gestellt werden sollen, noch ist es die vermeintliche Funktion solcher Bräuche. Hierüber wurde bereits ausreichend geschrieben. Es ist auch hier wieder das Rätselhafte, das eben nicht zum Vorschein kommt, wenn man hinter die Offensichtlichkeit der geschmückten Kühe, der bunten Bilder, der Feste und der Musik blickt. Hinter diese Offensichtlichkeit führte in meinem Fall die einfache Warum-Frage. Warum tut ihr euch das an? Warum treibt ihr die Tiere nicht ohne den ganzen Klimbim ins Dorf oder holt sie einfach mit dem Hänger? Ihr habt sogar einen befahrbaren Weg.
Man muss dabei auch bedenken, dass der Schmuck der Tiere, die Glocken, etc. auch einen nicht unerheblichen finanziellen Aufwand bedeuten, den man sich eigentlich sparen und in einen neuen Fernseher, einen Urlaub oder sonst was investieren könnte. Den Tieren wäre es jedenfalls bowidel. Also, ich fragte also nach dem Warum, hoffe auf eine erhellende Reaktion. So die Theorie von Frage und Antwort. Ich merkte bei diesen kurzen Gesprächen und beiläufigen Fragen, dass vieles Getane, scheinbar niemals abschließend ausgesprochen wurde. Dass es für viele Antworten einfach nicht die richtigen Worte zu geben scheint, zumindest keine Worte für einfache, kurze Antworten. Es blieb letztlich der Eindruck einer rätselhaften Übereinkunft jenseits aller ausgesprochenen Worte. Ein wortloses Wissen und unausgesprochene Übereinkünfte, die jemand von außen nicht verstehen kann. Nicht etwa, weil sie dich nicht hineinlassen, sondern weil du den Rest deines Lebens woanders verbracht hast und eben nicht dort.
So bleiben einem, auch mit den besten Absichten, für lange Zeit nur die Bilder, die oberflächlichen Beobachtungen von all dem, was man sehen und hören kann. Diese Fassade fremder Lebenswelten, die unserer eigenen oft noch viel fremder sind, als sie uns auf den ersten Blick erscheinen mögen. Der erste Blick ruft ab, was wir zu sehen erwarten. Und sehr oft, gerade im erwartungsorientierten Tourismus, werden ebendiese Erwartungen erfüllt. Erst der Blick hinter die Kulissen, offenbart die fremde Lebenswelt, die Normalität außerhalb der eigenen Routinen und Prozesse. Oberflächlich verbindet uns viel Gemeinsames. Zwei Augen, eine Nase, Mund und so weiter. Physiognomisch, ein wunderbares Wort, also rein optisch, sind wir Menschen uns sehr ähnlich. Bewegungen, die Notwendigkeit zu Essen, zu Arbeiten oder die Angewohnheit bei Kälte zu frieren. Hier besteht viel Ähnlichkeit und diese Ähnlichkeit schafft ein Gefühl der Gewohnheit und im wahrsten Sinne eine Fassade der Ähnlichkeit. Wenn man da aber nach dem Warum der Menschen fragt, nach ihren Biografien, ihren Motivationen, dem Wert von Arbeit oder Familie, was auch immer, dann merkt man rasch, wie unglaublich unterschiedlich, vielfältig, fremd und rätselhaft unsere Leben hinter der Fassade sind.
Ja, wir sind immer noch beim Almabtrieb, haben aber einen anderen Fokus gewählt. Das alpine Tirol ist hierfür ein kontrastreiches Beispiel, weil die urbane Welt des Wieners (der eigentlich Salzburger ist) und jene von Walter und seinen Kollegen so wunderbar unterschiedlich sind. Hier haben Menschen völlig unterschiedliche Leben gelebt, Leben, die sie völlig unterschiedlich geformt haben. Um Walters oder Werners Lebens wirklich zu verstehen, müsste ich ihr Leben leben oder zumindest lange Zeit mit ihnen und an ihrer Seite. Dass dies nicht möglich ist, liegt auf der Hand.
Und so sind wir nun im Tal angekommen und bei einer Erkenntnis, die sich erst durch den Abtrieb und das Schreiben dieser leicht verkopften Reportage ergeben hat. Viele alte Sprüche dürften schon eine gewisse Logik in sich tragen. Ob Cicero oder Sokrates, egal: Ich weiß, dass ich nichts weiß“ sollen sie da sinngemäß gesagt haben. Ganz viel später waren es dann die „Unknown Knowns“, deren Urheberschaft ebenfalls umstritten ist. Das Meiste im Leben wissen wir nicht, das Wissen darüber bleibt jedoch die Voraussetzung für weiteres Lernen. Das Leben der Anderen bleibt rätselhaft. Die Erkenntnis darüber, dass wir vermutlich das meiste nicht wissen, auch wenn es in unseren Klischees und gedanklichen Schubladen oft umgekehrt erscheint, ist im ersten Moment niederschmetternd und lähmend. Im nächsten Augenblick dann auch wieder unheimlich reizvoll. Es gibt vielen zu entdecken, wenn wir wieder einen offenen Blick hinter die Fassaden der Anderen und die Grenzen unserer eigenen Blasen wagen.
Jeder sieht bei einem Tiroler Almabtrieb etwas anderes und man sieht, was alles in einem Almabtrieb steckt. Ich freue mich jedenfalls sehr über die Möglichkeit, die uns Patrizia, Walter und all ihrer Kolleginnen und Kollegen gegeben haben, dabei zu sein, hineinzuschauen und darüber berichten zu dürfen.
An dieser Stelle vielen Dank für das Vertrauen und diese Möglichkeit.
Ach ja, Christian, Walters Sohn und somit Patrizias Bruder (Logik ist schon krass!) hat dann im Tal, also in der Kelchsau, ein Fest organisiert, wie jedes Jahr. Er züchtet übrigens Ziegen, genauer gesagt Tauernschecken, und ist auch so einer, der jedes Jahr kilometerweise Zäune im Steilen baut. Und auch er wirkt dabei ebenso rätselhaft, entspannt und motiviert.
Nach der Ankunft in Kelchsau werden die Tiere dann kurz versorgt und von dann von ihren Besitzern abgeholt. Rundherum wird gefeiert, es gibt Bier, Live-Musik und Essen. Alles organisiert von Walter, seiner Familie und deren Freunden und nur für diese eine Alm. Sie sind mit ihrem Abtrieb aber nur die lokale Vorhut. Zwei Wochen danach gibt es dann den großen Abtrieb nach Hopfgarten, dann bringen die übrigen, niedriger gelegenen Almen ihre Tiere ins Tal. Inzwischen ein riesiges Event, das man auch im Reisebüro buchen kann und zu dem jährlich Menschen aus der ganzen Welt anreisen.
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